Tepito

3 Okt

Auszug aus „Aztekische Stadtguerillapfade“ in der neuen Mixology:“

Willkommen in Tepito, dem „Barrio Bravo“. Das Wilde Viertel. Hier florierten einmal Kunsthandwerk und Schuhhandel. Irgendwann versiegten die Wasserquellen, Gebäude verfielen, Müll wurde abgeladen. Prostituierte und Kriminelle nisteten sich ein. Heute sind die Straßen von Tepito mit unzähligen Ständen vollgerammelt, ein einziger großer Markt, auf dem es alles, wirklich alles zu kaufen gibt. Vom falschen Versace-Hemden bis zum Universitätsdiplom, von Hehler- und Schmuggelware bis zur professionell gebrannten DVD. Darüber der Segen der Santa Muerte, des heiligen Tods, die hier verehrt wird wie nirgends sonst. Razzien kommen und Razzien gehen, Tepito bleibt. Das ganze Treiben und Schwitzen und Reiben der Körper endet bei Einbruch der Dunkelheit, wenn die Ware wieder in alle Richtungen davongekarrt wird und die Straßen schmutzig und aufgebraucht zurück bleiben.

Nachts treiben sich hier die Faulenzer und Schurken rum und schmieden an der schwarzen Legende eines Viertels im Schatten. An einer düsteren Straßenecke steht die Cantina „Puerto de Madrid“. Es ist eine der zahllosen Kneipen von Tepito, die an einem Freitag wie diesem die Arbeiter mit Alkohol nährt; eine auf den ersten Blick verwahrloste, aber dann doch von einer inneren Ordnung zusammen gehaltene Brutstätte des Suffs. Drinnen, an der Bar, stehen zwei Händler und saufen Corona, der Metzger daneben hat noch immer die Schlachterschürze an und aus der Ecke schmettert eine Jukebox heiße Trompetenrhythmen. An den Tischen versaufen Arbeiter in Unterhemden ihren Wochenlohn und mampfen Chips aus der Untertasse. Unter einem speckigen Poster der Jungfrau von Guadalupe sitzt ein kahlköpfiger Kellner und achtelt Limetten.

Ich bestelle beim Reingehen an der Bar einen Tequila Corralejo und setze mich an einen Tisch an der Wand. Im Fernseher unter der Decke läuft Boxen, ein rostiger Ventilator quält sich Runde um Runde durch die verrauchte Luft. Man versteht kein Wort in dem hitzigen spanischen Lärm. Über mir hängen zwei Filztafeln mit den Getränkepreise. Daneben ein Schild mit den Anweisungen zum Verhalten bei Feuer oder Erdbeben.

Der Kellner bringt den Corralejo. Bekannt ist die Marke vor Allem für ihre langgezogene blaue Flasche. Der Tequila selbst ist eher was zum Wegtrinken und Breitsaufen, hat aber ein paar interessante Nuancen. Ein herber Geschmack, der sich erst beim mexikanischen Auspusten manifestiert. Ein feuriges, rasses Aroma, ein wenig Lakritz, es brennt im Gaumen und vor Allem in der Nase… ich neutralisiere alles mit einem Stückchen gesalzener Limette und stelle das Glas auf den speckigen Holztisch. Die Oberfläche des Tequila zuckt im Rhythmus der Jukebox, der Boxkampf tobt, die Säufer johlen. So wird es die ganze Nacht noch weitergehen im „Puerto de Madrid“. Ich lege einen Schein auf den Tisch, gehe zur Tür, an dem kahlen Kellner vorbei, der nun Salzstreuer mit einem Löffel nachfüllt, die Flügeltüren fliegen auf und geben den Blick frei auf die leeren Gassen von Tepito, und auf eine Nacht in Mexiko, die gerade erst begonnen hat.

Rodeo in Tejalpa

26 Sept

Rodeo-Action in der Stierkampfarena! Um das eingegitterte Areal hat man heute morgen noch schnell zwei Tribünen hochgezogen. Bereits am späten Nachmittag sind fast alle Plätze belegt, das Programm hängt zwar, aber man sitzt gerne und kommt deswegen ein bisschen früher. Es geht los mit zwei Sängern hier aus dem Dorf. Der erste hat es ganz gut drauf und trällert zum Playback frohgemut seine Schnulzen in den Himmel. Der andere versagt. Die meisten schauen verlegen in den zuziehenden Himmel, andere nutzen die Zeit zum Quatschen oder Popcorn kaufen. Als er den vierten Song ansagt, werden die Leute langsam unruhig. Es werden zehn. Am Ende sind die meisten besoffen.

Jetzt: Die Imitatoren. Los geht es mit Paquita La Del Barrio: Die korpulente Ranchera-Sängerin hat in der aufgeblasenen Ledertunte ein angemessenes Ebenbild gefunden. Die tuckt jetzt durch den Staub und stimmt „Rata de dos Patas“ an. Die Lieder von Paquita sind vor allem für Frauen, was daran liegen kann, dass sie vor Allem gegen Männer sind:

„Du schmutzige Ratte, du Kriechtier,
Du Abschaum und Schandfleck
Du Untermensch und Höllengespenst, verdammter Wurm,
Wie viel Schaden du mir angetan hast!

Ungeziefer, Giftschlange
Verschwendung von Leben
Ich hasse und verachte dich!

Du zweibeinige Ratte
Ich rede mit dir!
Denn auch das verdammteste Kriechtier
Sieht gut aus neben dir.“

Zwischen den Tiraden haut die Tunte noch ein paar „Habt ihr gehört, ihr nutzlosen Männer?“ raus an die Crowd. Hätten wir das auch.
Der nächste soll Joan Sebastian nachmachen, fährt also im Pferd vor und gibt dann etwas verstimmt dessen Corridos zum Besten. Es wird dunkel, es donnert, im Hintergrund baut die Band wieder ab. Wird demnächst wohl regnen, wie es aussieht.

Nach Joan Sebastian kommen die Kinderreiter aus Kalifornien. Die beiden Chicanos vollführen Kunststücke auf ihren Pferden und der Moderator lobt die beiden dafür, das mexikanische Brauchtum zu bewahren. Eigentlich sollte jetzt das Showreiten kommen, der Höhepunkt des Festes, seit Stunden reiten sich im Hintergrund die Cowboys warm, seit Wochen war das auf den farbenfrohen Plakaten angekündigt. Dann wäre noch die ganze Nacht lang Live-Musik gewesen… Aber es ist schon jetzt stockdunkel, die drei Farbscheinwerfer der Band können das Showreiten auch nicht mehr retten und so muss man sagen: Scheiße geplant – aber auch so war José mal wieder froh mit Nacho angestoßen zu haben und Doña Bárbara hat mal wieder mit der blutjungen Mari von den Tacos dorados gequatscht und am Ende ziehen sie wieder alle heim über die huckligen Straßen von Tejalpa und stoßen weiter an und tratschen und machen dann ihre privaten Afterhours in den Vorgärten und Hinterhöfen der Gemeinde und sind sich nachher alle einig: Viva México!

Der Morgen des 16. Septembers

22 Sept

Action am Rodeo-Platz! Trompetensound vom Band, Popcorn aus der Tüte, die wilden Cowboys reiten ein: Iiiee – ha! Jetzt wird ne Runde mexikanisch gejodelt, eine Cerveza geköpft und HOCH die Faust, HOCH die Hände, VIVA VIVA MÉXICO!!!
Zum Nationalfeiertag lassen die Mexikaner mal so richtig den Proll raus. Heute herrscht Sombreropflicht, man geht mit O-Bein und Unterhemd, heute wird der Schnauzbart rausgeputzt und richtig Dialekt geredet – viva México cabrones! Seit gestern Abend ist Action im ganzen Viertel. Kleine Kinder zünden Weltkriegsböller, aus jedem Haus kommt Mariachi, die Straßen sind voller Menschen. Totale 3D-Plastik, da mit geschlossenen Augen durchzugehen: Mit jedem Schritt ändert sich das Soundpanorama, von links kommt Banda-Sound, aus dem Eingang rechts Gelächter, ein Taxi fährt vorbei, zwei Lautsprecher auf dem Dach: „Señores und Señoras! Morgen! Das unglaubliche Spektakel! In Tejalpa, Morelos! Der Tag unseres Vaterlandes, Musik, Clowns und Live-Band! In der Stierkampfarena „La A-sun-ción“!“ Weiter hinten lässt ein Knirps ne Bombe hochgehen.

Gestern nacht um elf wurde dann der „Grito de la Independencia“, der Schrei der Unabhängigkeit ausgestoßen, wie in jedem anderen Dorf in Mexiko auch.
Hinterher war Mordsbesäufnis und dann erstmal Ruhe bis heute Vormittag.

***

Da zogen die Chinelos durchs Dorf, eine Spezialität des Bundesstaates Morelos: Grotesk verkleidete Figuren im Ganzkörperkostüm – steife Pappmachégesichter, wilder Tanzschritt -springen wie durchgedreht durch die Straßen, zu einem einfachen aber anstachelnden Tropenrhythmus. Feurig, grimmig,unbezwingbar. Die Blaskapelle zuckelt hinterher, die Trommel hallt, aber ihr Klang verendet ziemlich kläglich in den verwaisten Gassen eines verkaterten Morgens, da hocken jetzt die ganzen restdichten Gestalten ungemein fertig auf vollgespuckten Treppen, hoffen, dass sie Sonne nicht so bald losmacht und gedenken im Restrausch der Unabhängigkeit Mexikos… Hinterher treffen sich alle in der Ayudantia, einem halboffenen Wellblechkomplex, der der Gemeinde gehört, die Band sitzt jetzt auf Plastikstühlen, die Chinelos tanzen auf Zement. Bier und Essen werden gratis ausgeteilt. So übersteht man den Vormittag.

Gegen Nachmittag geht der Trubel am Zócalo los: Hier hat sich die große Menge der Bauern und Händler versammelt, in Stoffhosen, weiten Hemden, Sombrero und Sandalen drängen sie sich um den zentralen Platz des Dorfes. Wladimir Rogelio, der reiche Farmer und Schirmherr des Festes, hat eine Sau gespendet! Frisch rasiert wird das Tier auf den Zócalo geführt. Vor den Augen der johlenden Menge mit Schmalz eingeschmiert. Eine Sau ist Geld wert, jeder will das Vieh haben – noch einmal die Nationalhymne und dann gilt´s: Wer das fettige Schwein erwischt und festhält, kann es behalten. Viva! Viva! Viva México! Und los.

Die Sau schnuppert erst unbekümmert, dann rennt die gesamte Dorfjugend auf das arme Viech los, das Schwein rennt in Panik, entwischt den gierigen Händen, flutscht durch die Arme des Bauern Porfirio, und gibt José einen Bodycheck. Schließlich hält man doch die Sau hoch, das Fest ist im vollen Gange.

(nächstes Mal: die Party Rodeo-Platz mit Video und Text und Überschrift!)

Ein Liter Pulque in Ahuitlapilco

4 Sept

Wir fahren rüber nach Tlaxacala, die Hauptstadt der Staates. Tlaxcala ist ein Ministaat, hier liegen eine Menge Dörfer und Städte auf einem Haufen und kaum kommt man aus dem einen Kaff raus, fährt man schon am Zócalo des nächsten ein. Die Landschaft ist märchenhaft, eine reine, heitere, hügelige Hochebene, saubere Luft, ein Himmel aus dem transparenten Plasma kindheitlicher Urlaubsnachmittage. Bis zur Stadt Tlaxcala im Staat Tlaxcala sind es nur zwanzig Minuten. Wir parken das Auto am Zócalo. Hier in der Hauptstadt schauen die Leute ne Ecke nobler aus, die ganze Stadt macht einen gepflegteren Eindruck. Trotz Sonntag sind kaum Menschen auf den Straßen, der Palacio de Gobierno, der Landtag, ein gut erhaltenes Gebäude aus der Kolonialzeit, ist gerade mit grünen und silbernen und roten Glitzergirlanden geschmückt. Tlaxcala steht sauruhig da und chillt im Sonntagsgewand.

Der Landtag ist offen, in einem Innenhof ist in Wandmalereien die Geschichte dieses verräterischen Staates zu besichtigen – Tlaxcalteken waren es damals, die Hernán Cortez ins Herzen des Reiches der verhassten aztekischen Tyrannen führten – „Und so nahmen Sie Maxtli mit auf den Zócalo der Hauptstadt und rissen ihm das Herz heraus“…, das ist jetzt auch keine 400 Jahre her… aber vor Allem eine extrem reine, ungerübte und ruhige Stimmung. Ein Tor führt weiter hinein, der nächste Innenhof, klar, still, sanft bewachsen, und beinahe übersehe ich das Messingschild in der schattigen Ecke:

„In seiner Funktion
als persönlicher Sekretär
des C. Antonio Hidalgo
wurde hier am 22. Februar 1913
der Reformer José Rumbio
geopfert, Gründer der sozialen
Befreiungsbewegung von 1906“

Eigentlich nicht die schlechteste Option, denke ich, unter diesem ungetrübten Himmel, in diesem schönen Patio, das Ende seines Lebens zu besiegeln… Nochmal hochzublicken an den Bambusstangen, das Glänzen der tiefen mexikanischen Sonne in den Winkeln, diesen kleinen Mikrokosmen wo immer sich die Sonne zart im Kalk verfängt und die Farbe von innen strahlt, dann nochmal zu riechen, nochmal die Temperatur aufder Haut zu fühlen und zwischen diesen kühlen Mauern noch einen letzten Atemzug zu tun.

Zurück auf dem Eingangshof komme ich mit einem Bauarbeiter um die Fünfzig ins Gespräch: „Wir malen den ganzen Laden neu an, alles was hier weiss ist, das waren ich und meine beiden Compañeros“. Zwei rotbäckige Landburschen lächeln dazu. „Wir sind jetzt fertig für heute und gehen nun noch ordentlich einen Pulque zischen“, meint der Alte, zwei Silberzähne blitzen, „komm doch mit hoch nach Ahuitlapilco, ich lad dich ein, jetzt ist Sonntag, Cabrón!“
-„Mal schaun, ob ich meine Frau überreden kann.“, zögere ich, ich persönlich würde mich ja sofort dranhängen und mit denen irgendwo oben in den Bergen Pulque saufen. Aber Lily will sich erst noch die Innenstadt anschauen. Der Bauarbeiter diktiert mir die Adresse.

Wir verlassen den Zócalo und gehen zur Kirche, einem knallgelben verwinkelten Bunker, rundherum ein extrem sauberer gepflasterter Platz, nur hier und da ein Touristenpärchen, zwei Skateboarder, ein Mütterchen. Im Schatten der Ficusbäume sitzen die Schuhputzer und blättern in Boulevardzeitungen. Ich setze mich zu einem Mann auf den Stuhl, dessen linkes Auge so grau und geschwollen aussieht wie ein gekochtes Karpfenauge, auf der Parkbank nebenan sitzt ein ratzedichter Säufer mit einer fast vollen Flasche Glenn Whiskey. Aus meiner Position einen Meter über dem Boden sehe ich zu, wie der zerlumpte Schuhputzer meine Jeans mit einer Spange nach oben klemmt. Dann beginnt er die Lederschuhe zu bearbeiten. Der Säufer nebenan brabbelt von Zeit zu Zeit Unerständliches, „Sohn der Gefickten!“, kann ich heraushören und: „Alles Wichser!“ Dann sinkt er wieder in sich zusammen und dirigiert lahm die Luft des Vorplatzes…

Schuheputzen ist in Mexiko ein richtiges Ritual: Fünf verschiedene Töpfe nimmt sich der Mann: Seife, Tinte, Wachs, Brillo und Politur, bearbeitet meine Schuhe mit Pinseln, Bürsten und Tüchern. Anstatt mich in die Zeitung zu vertiefen, die er mir reicht, frage ich ihn ein bisschen über die Stadt aus, verstehe kaum ein Wort, er erzählt, dass er früher Bauarbeiter gewesen sei, aber seit der Sache mit dem Auge gehe das nicht mehr.
Was ist Ihnen denn da passiert?
„Am Sonntag des 28 Januar 2004 habe ich einen kleinen Stich im Auge gespürt. Dann wurde es immer weniger mit der Sicht, am Ende blieb nur ein kleiner Punkt. Nach viereinhalb Tagen war ich blind.“
„Und was sagt der Augenarzt?“
„Der kann auch nicht sagen was es ist.“
„Sie sollten mal zu nem anderen Arzt gehen…“
„Nein, das ist ein sehr guter Augenarzt.“

Als er fertig ist, glänzen meine Schuhe wie neu, sogar die Sohlen hat er schwarz nachgemalt.
Wir sollten jetzt hochfahren nach Ahuitlapilco, finde ich, und bisschen Pulque trinken.
Der Weg führt uns über der Anhöhen der Stadt, verfallene Kloster, am Horizont steht glasklar der schneebedeckte Gipfel des Pico de Orizaba, desmächtigen Vulkans, der höchste Berg Mexikos.
Wir fahren in das Kaff, suchen eine Weile um die Kirche herum, fragen ein paar Mal, dann geht ein Weg von der Schotterstraße ab und auf einem begrünten Hof sitzt schon der Bauarbeiter von vorhin mit seinen Helfern. Als sie mich sehen werfen sie ihre Tonkrüge in die Höhe.

„Achwas Guero! Dich hätten wir hier nun wirklich nicht mehr hier erwartet!“
Ich bestelle mir auch einen Krug Pulke, ein verhutzeltes Mütterchen rennt aus dem Garten und verschwindet in einem Lehmhaus. Ich setze mich zu den dreien auf den Brunnenrand.

„Schau Guero, hier haben wir was zu essen, bedien dich!“

Ich nehme eine Tortilla, fülle sie mit Spaghetti und haue grüne Salsa drüber. Dann stoßen wir an und ich nippe an meinem Pulke, den mir die Alte gebrach hat. Der schleimige Saft aus vergorenen Agaven ist gewöhnungsbedürftig, denn er schmeckt wirklich so wie alt gewordener Kaktus. Nach zwei, drei Schluck kriegt man´s aber zunehmend runter.
Der Bauarbeiter hat schon ziemlich einen sitzen, die Jungs sind super freundlich. Aus welchem Staat in den USA ich denn komme, fragen sie mich.

„Nein, ich bin kein Gringo“, verteidige ich mich, „Ich komm aus Alemania.“
Da sind sie erstmal ratlos. Der große mit den roten Wangen meint: „Ist das nördlich oder südlich von New York?“
„Nee, das ist in Europa.“
„Achso, da wo die Olympischen Spiele sind.“
„Ja, da ganz in der Nähe.“
„Und findet man dort Arbeit?“
„Ja ich denke das ist einfacher als in den USA, die lassen ja alle rein, als Tourist erstmal.“
„Und was kostet so ein Flug dort wo du sagtest, zu den olympischen Spielen?“

Die sind hier noch nichtmal aus den Bergen von Tlaxacala rausgekommen, merke ich, schon wieder so ein Moment, wo man nicht weiss, ob man´s geil oder traurig finden soll.

Ich trinke den Liter Pulke weg mit denen, dann machen die nochmal Fotos, „Sohn einer gefickten Nähmaschine“, murmelt der Alte während zwei Spaghettis an seinem Unterkiefer pendeln und die Pulkesoße langsam von seinem Ärmel läuft. Ich pack´s dann langsam, meine Frau ist am Stressen, auf den Pulke laden mich die Jungs schließlich sogar ein.

Mixiotes in Tlaxcala

29 Aug

Expedition in den Ministaat Tlaxcala. Eine nächtliche Irrfahrt durch verhuschte Dörfer mit immer schwerer auszusprechenden Namen, mehr und mehr Xe und Zetts und UAs, bis wir halb zwei von der Autobahn mehr oder weniger in einen Feldweg abbogen und das Quartier bei der Schwiegermutter bezogen. Die Nacht war schweinekalt und wir verzogen uns tief unter einen Wall aus fünf Lagen verschieden dicker Decken und Laken.

***

Aufstehen in Tlaxcala. Ich ziehe die Gardine zur Seite, hinterm Haus ein eingemauertes, unbebautes Grundstück, ein halber Hektar vielleicht, ein breiter Streifen mit Mais bepflanzt, dazwischen mannshohe Agaven, sechs knorrige Bäume. Zwei Hühner tucken durchs Gras, eine Katze schleicht herum und auf einem Haufen Kies spielen zwei Kinder. Der Himmel ist klar, ein wunderschöner Sonntagmorgen auf dem Land… wir sollten runter fahren, in die Stadt, Mixiotes frühstücken.

***

Der Markt von Apizaco. Der gleiche Stress wie in jedem mexikanischen Markt: Die Reizüberflutung, das Gedränge, das Werben, die Farben und Gerüche… Aller Welt Früchte und Gemüse an einem Stand, daneben Fisch, Garnelen; vor den kleinen Restaurantes stehen die Kellner und drängen „Pásele, pásele, kommen Sie rein, Barbacoa, Quesadillas, Mixiotes, hier sind sie richtig, gebratenes Fleisch, gewürztes Fleisch, vom Schaf, von der Ziege, pásele, pásele, kommen Sie nur näher“, und drücken den Unentschlossenen ein Tellerchen mit Tortilla und dampfendem Hammelfleisch in die Hand, „Probieren Sie nur! Pásele, por favor!“

Bis wir dann selbst an einem langen Holztisch sitzen und uns ein halbes Kilo Mixiotes auftischen lassen, in Plastiktüten eingewickeltes Hammelfleisch, das so in der Tüte mit roter Salsa im Wasserdampf gedünstet wird. Dazu gibt es Consomé, eine kräftige, fette Hammelbrühe.

Wieder draußen im Gang, der Stress geht wieder los, das Geschrei, das Feilschen und Werben, eine uralte Frau mit zwei weißen Zöpfen schlurft durch die Menge, in jeder Hand ein Plastikeimerchen, und kaum hörbar und vollkommen robotisiert murmelt sie was von „Flan, Pudding, fünf Pesos das Stück“. Es müssen Jahrhunderte sein, die diese Frau auf genau diesen Markt geht und genau diesen Spruch abspult, so ausgeleiert und eingefahren und fast schon tot klingt das. Es ist einer dieser Momente, wo man nicht weiss, ob man´s geil finden soll oder traurig. Davon gibt´s ne Menge in Mexiko.

***

Apizaco Zentrum. Niedrige Häuser, Clowns auf den Straßen, der Laden mit Perfumes europeos. Ich geh so neben Lily und zieh mir wieder mal diese absurde Städtearchitektur rein, die jede mexikanische Stadt zu einem bizarren Märchenpark macht: Der moderne Palast neben der alten Baracke, das Kolonialhaus neben der Fachwerkdatscha, das Glasbüro neben einem… ja was ist das eigentlich? – ein russischer Kreml, die Hütte der Baba Yaga, ein Lebkuchenhaus? Abgefahren jedenfalls. „Diese absolute Nichtplanung macht ja aber auch total den Charme von Mexiko aus“, sage ich zu Lily, „nicht so wie bei uns, wo ganze Häuser abgerissen werden, nur weil sie 20 cm zu hoch sind. Mexiko ist Chaos und Chaos ist schön. Äh, was wollte ich nochmal sagen… Achso, ganz schön hässlich sind die hier.“

Etwas, das wirklich auffällt. In Cuernavaca steht manchmal in jeder Himmelsrichtung eine Göttin, hier in Apizaco sind die Frauen grob gebaut, mit breiten Gesichter und Hakennasen… fett sind sie auch. Wir haben mittlerweile den Zócalo erreicht, die Wolken zum Greifen nahe, es ist wieder das gleiche Design wie in jedem mexikanischen Stadtzentrum: Da ist die Kirche, der Palacio Municipal, das Bürgermeisterhaus, davor der kleine Stadtpark, der normalerweise Parque Alameda heisst, so wie die wichtigsten Verkehrsadern jeder mexikanischen Groß- oder Kleinstadt Avenida Insurgentes und Reforma heißen – der Park wieder landschaftsgärtnerisch durchdesigned, mit zu Kugeln oder Kuben zurechtgestutzten Büschen, von diagonalen Wegen durchzogen, in der Mitte der „Kiosk“, ein erhöhter Pavillon, auf dem nachts kleine Blasorchester aufspielen… Jetzt sitzt nur ein Sonnenbrillenmann mit Gitarre auf einer Parkbank (auch wieder exakt die gleiche verschnörkelte, grün angemalte Parkbank wie in ganz Mexiko), und lässt lässige Sonntagsmusik aus seinem Verstärker.

Dokumentiert gehört eigentlich auch noch dieses öffentliche Klo, wo die Kabinentür genau mit der Kloschüssel abschließt, wo nicht mal der gelenkigste Yogi zu scheißen wüsste. Ich lasse dann die Tür auf, in der Nebenkabine sitzt eh ein Blinder. Nachher führe ich ihn wieder auf den Zócalo hinaus.

Die Kirche sieht aus wie eine unverputzte Megabaracke, drinnen ist grad Messe, ein paar hundert Leute langweilen sich auf den Bänken, die Hälfte pennt schon. Neben der Bühne lehnt ein Bauer mit Sombrero und Sandalen, Lily nimmt unseren Sohn in ein Seitenschiff, in einem Glassarg liegt ein grausam zugerichteteter Jesus, Diego heult fast und ich so: „Nee, der hat sich nur wie ein Clown angemalt“, aber nein, das ist ja Diosito, der für unsere Sünden gestorben ist, fuck… Die Kirche hat mich irgendwie abgeturnt. Lasst uns rüberfahren nach Tlaxcala, die Hauptstadt des kleinsten Staates Mexikos.

Cuautla

20 Aug

Wenn man sich in den engen Straßen der Innenstadt von Cuautla wiederfindet, verfängt man sich auch in einem Traum vom alten Mexiko, einer lebendigen Erinnerung an das, was dieses Land einmal war und ausmachte. Die niedrigen Häuser, dicht von Verkaufsständen belagert, das bunte Angebot der Waren, das oben mit einem Sonnenschirm oder einer Plane abgeschlossen wird, dann beginnen die groben Pinselstriche, „Tortillas“, „Licor“, „Hotel Alameda“ bis unters Dach, und darüber Stromleitungen und dann nur der tiefe Himmel von Morelos, tierra de trabajo y libertad, dieser Erde, in der Zapata vor hundert Jahren die mexikanische Revolution lostrat.

Viel hat sich nicht geändert seit dieser Zeit in Sombreroland, die Männer sind noch immer die alten gegerbten Rancheros mit Cowboyhut, Hemd und abgetragenen Stoffhosen, zerflederte Huaraches tragen sie durch den Staub, die Frauen braungebrannt und wohlbeleibt, die Haare zum Zopf, den runden Bauch in der Schürze, nur die Kinder tragen chinesische Spidermanmode, und so schieben sie sich alle durch das heiße Dickicht der Stände und Straßen, suchen die Schatten der Schirme, und finden sich schwatzend und greifend zurecht in diesem brodelnden Ameisenhaufen von Cuautla.
Besser noch als die Menschen erzählen die Häuser die Geschichte von Cuautla. Ein oder zwei Geschosse, die Mauern verfallen oder zum hundertsten Mal übermalt, atmen sie einen zarten Moder aus, eine rostige Erinnerung daran, dass diese Straßen schon ihre zweihundert Jahre dem heißen Klima trotzen.

Was für eine Erfrischung ist es dann, auf den Zócalo zu treten, die weite Luft des Stadtplatzes zu atmen, die Stille der kühlen Gänge zwischen den Büschen, im Schatten der Benjaminbäume, die zu Würfeln zugeschnitten sind… auf den verzierten Bänken sitzen zwei, drei Alte mit Sonnenbrillen, kauen auf Grashalmen und irgendwo läuft ein Radio, das alte Rancheros spielt. Hier, im innersten Zentrum von Cuautla, herrscht wieder Ruhe. Zwischen Pavillon und Springbrunnen, unter einer langen Reihe von schnurgeraden Palmen, die weit hinaus in den Himmel schießen, hat man nicht nur das Zentrum der Stadt, sondern auch so etwas wie das Herzen von Mexiko erreicht. Cuautla, die zweitgrößte Stadt des Staates Morelos, hat mehr Ursprünglichkeit bewahrt als ihre große Schwester Cuernavaca. Nur anderthalb Stunden von Mexico City entfernt, ist Cuautla eine Perle der Provinz, eine unverstellte und natürliche Schönheit, die Mexiko so zeigt, wie es in weiten Landstrichen noch immer ist: Ein Agrarland, ein Bauernstaat, ein Ort, an dem Mensch und Erde verschmelzen.

Cuautla gibt nicht vor, etwas zu sein, was es nie sein kann. Viel zu stolz sind seine Bewohne auch auf die Geschichte, die diesen Ort für immer in die Bücher eingetragen hat. Vor 200 Jahren war Cuautla Schauplatz des Unabhängigkeitskrieges, José Maria Morelos, Pfarrer und General der Aufständischen, trotzte hier einer monatelangen Belagerung. Hundert Jahre später war Cuautla die erste Stadt, die der Revolutionär Emiliano Zapata einnahm, hier wurde acht Jahre später auch sein kugeldurchsiebter Leichnam begraben.

Direkt neben dem Zócalo hat man deswegen ein kleines Museum eingerichtet, sonntags ist der Eintritt wie in allen Museen in Mexiko frei. Das Gebäude, das sowohl von Morelos als von Zapata bewohnt wurde, zeigt Kanonen, Fotos und Uniformen. Mehr noch als die Ausstellungsstücke, zeugt das Gebäude selbst von einem historischen Mexiko. Die niedrigen Decken, die an manchen Stellen unverputzten Mauern aus Naturstein und der Innenhof und Garten mit dem alten Brunnen…

Während man sich in Gedanken noch immer in den Zeiten der mexikanischen Revolution wähnt, merkt man gar nicht, dass man schon wieder in das wirkliche, heutige Cuautla hinaus getreten ist. Da sind wieder die Musik der Rancheros und der heiße Nachmittagswind, der schleichende Schneckengang der Alten, der zerbröckelnde Mörtel dieser Jahrhundertstadt. Und dann merkt man, dass in Cuautla wirklich ein bisschen die Zeit stehen geblieben ist.

Mezcal, Mezcal

15 Aug

In Tejalpa an der Hauptstraße steht der Fruchtverkäufer Hipolito. Jeden Morgen fährt er seinen Holzkarren mit Mangos, Gurken, Papayas etc an den Bürgersteig und steht dann den ganzen Tag im dunstigen Schatten seiner orangefarbenen Plane und vercheckt Fruchtsalate. Hipolito hat acht Jahre im Knast gesessen, weil er seine Alte abgeknallt hat. Heute ist er um die vierzig. Mit seinem dünnen Oberlippenbart und den eng stehenden Augen erinnert er manchmal an eine gut gebräunte Ziege.

Ab Mittag ist Hipolito angetrunken, hat das aber ganz gut unter Kontrolle. Von Zeit zu Zeit haut er sich einfach einen Schluck 96%-igen Zuckeralkohol in die Cola, drückt eine Limette drüber und haut sich mit der Machete ein Stück Eis zurecht. Schmeckt im Grund gar nicht so schlecht, sein Cocktail. Kann ich sagen, denn Hipolito teilt gerne. Am Nachmittag belagern den Stand mindestens ein halbes Dutzend Säufer wie Straßenköter eine läufige Hündin. Das ganze versoffene Rudel hockt dann auf Hockern um den Fruchtstand und vertreibt die Kunden.

Da ist der uralte Genaro, der mir jedes Mal auf der Straße „Guerote“ zuruft, „Großer Weißer“. Genaro ist glaub ich schwul und meint dann im Vollsuff manchmal so Sachen wie „Großer Weißer – du und ich, wär das nicht möglich?“, während Hipolito im Hintergrund zwinkernd einen Luftblowjob gibt, mit Faust und Zunge.

„Naja, Genaro, wenn du 80 Jahre jünger wärst und nicht sone hässliche Fresse hättest, könnten wir wirklich mal drüber reden.“

Dann hängt da noch der Pilot rum, ein zahnloser, verrunzelter Alter, der immer in Stewarduniform auftritt, mit Kapitänsmütze und Weste, ganz schräger Kerl, haut immer sautrockene Sprüche raus.

Roger aus Veracruz, Vokuhila, fehlender Schneidezahn, vorlauter Prolo mit Sonnenbrillenkomplex, Frauenhinterherpfeifer und Sabbermexikaner, hab ich letztens erst im Armdrücken besiegt.

Timoteo, der Gitarrist. Gegen Abend kehrt er von seinen Streifzügen durchs Viertel zurück, ein Ständchen hier, einmal Happy Birthday da, und dann sitzt er neben Hipolitos Fruchtstand, trinkt Mezcal und singt den Himmel an wie ein Wolf, die untergehende Sonne im Gesicht.

David, my homie from 18th Street Gang. Der El Salvadorenier mit der tätowierten 18 im Genick, 12 Jahre Los Angeles, kriegt für Geld alles her.

Mein Lieblingssäufer aber ist Chipotle, ein dicker Wuschelkopf mit Mexikanerbart. Der Name ist ihm geblieben, als er mich mal bat, Deutsch zu reden. Als erstes wollte er wissen, wie man „joto“ übersetzt und ich meinte „Schwuchtel“. Da fing der alte Pilot neben ihm an zu kichern und lachte: „Hahaha, Chipotle!“

Chipotles, geräucherte Chilis, falsch verstanden aber jetzt labert ihn hier jeder auf der Hauptstraße mit Chipotle an. Chipotle ist eigentlich Schreiner, ab und zu liest er mich auf der Straße auf, im Vollsuff, und fährt dann schweigsame Runden durchs Viertel, hoch zu der Kirche am Markt, wo die verhärmten Indias Hängematten und Sombreros verkaufen, vorbei an den bunten Eckläden, an aufgehängter Schweinehaut, an dem Indio aus Yautepec, der auf dem Boden sitzt, mit einem Häufchen Knoblauch vor sich… die armen, ausgebluteten Straßen des Barrios, wo die ewigheiße Jahreszeit der Sierra herrscht und Karten spielt mit dem schwülen Mittagswind.

***

Hipolito, der Fruchtverkäufer, ist jedenfalls als richtig cooler Mensch wieder aus dem Knast gekommen. Dem Piloten schiebt er ein Stuhlkissen auf den umgedrehten Eimer, den Trinkern gibt er ab Mittag Zuckeralk aus, und abends verteilt er unter den letzten verbliebenen Säufern die übrig gebliebenen Tüten mit Ananasscheiben und Mango-Chili.

Letzten Sonntag ging dann alles schief. Eigentlich wollte ich nur kurz zur Comer, zum Supermarkt, und bisschen Käse und Schinken holen. Sonntag heisst Familienausflug. Der Plan war also Sandwiches machen, die Famile ins Auto packen und einfach drauflos fahren, irgendwo in einem schönen Dorf halten, den Zócalo besichtigen, durch die Straßen streunen, paar lokale Spezialitäten probieren.
Aber dazu musste ich erstmal am Früchtestand vorbei.

***

Roger, der Vokuhila, hält sich schon an Hipolito fest und der schwule Genaro döst in der Morgensonne. Ein knappes „Buenos días“ und ich bin vorbei. Auf dem Rückweg steht dann Chipotle da, mit einem löchrigen „Acapulco“-Shirt über dem Ranzen. Er hält mich am Ärmel fest und sagt:

„Schau mal, Guero, was ich heute feines dabei hab.“

Er greift in einen Stoffbeutel und holt einen Tonkrug hervor.

„Mezcal aus Juchitán. Hat meine Frau aus Oaxaca mitgebracht. Heut hat sie nicht aufgepasst und ich konnte ne Flasche rausschmuggeln.“

Ich schau mir das Ding an. Ein bauchiges, lackiertes Tongefäß, mit einem Wachspfropfen verschlossen. Interessant sieht das aus. Mal sehen wie´s schmeckt, denke ich und sehe zu, wie Chipotle den Korken raushebelt.

Hipolito teilt Plastikbecher aus, Chipotle den Mezcal. Was für ein Rachenputzer! Da ist es wieder, das Feuer der Sierra Madre, der wilde Geruch des Dschungels – Palmen, Lianen, Macheten und düstere Mayagötter. Für einen Moment sind alle wie benommen. Ich denke kurz an die Einkaufstüte in meiner Hand und an den Familienausflug, da schenkt Chipotle schon die nächste Runde aus. Der Morgen glüht auf, Roger fällt um, dafür kommt Genaro wieder zu sich und beginnt, unverständliches Zeugs zu grölen.
„Halt´s Maul, jetzt.“, zischt Hipolito, „Du vertreibst noch die Kunden.“

Ich stell die Tüten erstmal ab.

Eigentlich wollte ich mich schon immer mal so richtig eingehend mit Chipotle unterhalten.

***

Drei Stunden später herrscht Trubel am Fruchtstand. Timoteo spielt Gitarre, Roger tanzt und der Jarocho, der alte Neger, singt mit melodischem Bass von den Stränden von Veracruz. Ich will mich zum tausendsten Mal verabschieden, werde zum tausendundersten Mal auf das nächste Glas eingeladen, die Flasche wird und wird nicht leer, da packt mich Chipotle am Ärmel und stellt fest: „Wir fahren jetzt ne Runde.“

Grad im Wegfahren seh ich noch meine Frau, will aussteigen, aber Chipotle beschleunigt und wir fahren los, wieder seine lange Runde durch Tejalpa.

***

Klar war das Nachhausekommen ein Stress. Klar gab´s erstmal Anschiss von der Alten. Hat der Mezcal aber vielleicht geil geschmeckt! Ich hau mich auf die Matratze und penn weg.

***

Mitternacht. Ich stehe mit einer Stuhllehne in der Hand im Wohnzimmer.

Frau: „Mann, das ist doch nur ein Stuhl!“

– „Hä?“

„Du bist grad aufgestanden, hast den Stuhl zerlegt und geschrien: Wo sind die Drogen?!“

Ich geh pissen.

***

Am nächsten Morgen bleibt der Platz von Hipolito leer. Später treffe ich Chipotle auf der Straße: „Hipolito haben sie gestern Abend eingesammelt und zum Entzug eingewiesen. Der ist jetzt erstmal drei Monate weg vom Fenster. Mindestens.“

Oh, Mezcal.
Verdammter Mezcal…

Bosque de Aragón

10 Aug

Im Nordwesten der Hauptstadt wurde Mitte der 60er ein 160 Hektar großer Park angelegt. Ein riesiges Vergnügungszentrum mit Aquarien, Riesenrad und Delphinshows. Mit den Jahren geriet der Bosque de Aragón in Vergessenheit, wurde kaum noch gepflegt und vom populären Parque Chapultepec im Zentrum in den Schatten gestellt. Heute bleiben die Besuchermassen aus, die Geräte verrotten, Häuser zerfallen, Farbe blättert ab. Das Aquarium hat man vor drei Jahren geschlossen. Ein Spaziergang.

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Die U-Bahn-Linie B führt von der Station Buenavista im Zentrum hinaus nach Ciudad Azteca, eine Colonia bereits im angrenzenden Bundesstaat Estado de México. Auf halbem Weg, aber schon ziemlich weit außerhalb, liegt die Haltestelle Bosque de Aragón. Hier fährt die Metro überirdisch, das Tal von Mexiko ist ein weites, schmutzigbraunes Meer aus Hausdächern, Werbeflächen und Staub. Die Metro fährt dann runter auf gleiche Höhe mit der Avenida Oceania, links fünf Spuren, rechts fünf Spuren, und während sich rechts Geschäfte und Werkstätten aneinander reihen, ist auf der linken Seite alles grün. Einen guten Kilometer lang fährt die Metro an einem vergitterten Park vorbei und hält schließlich an der Station „Bosque de Aragón“.

Die Brücke über die Haltestelle, einmal umdrehen, und ich bin drin. Eine Teerstraße führt in den Park hinein, am Rand sitzt eine Frau neben einem Korb Tacos de Canasta, daneben ein Hot-Dog-Stand, ein paar Kinder drehen mit dem Fahrrad Runden auf dem Asphalt. Ansonsten absolute Ruhe. Als ich hundert Meter weiter abbiege, ist auch der Verkehrslärm aus meinem Rücken verschwunden. Dafür tauchen entfernte Technorhythmen auf. Eine Kurve weiter sehe ich es – ein kleiner Kirmes, dessen Fahrgeschäfte die Kinder mit brülllautem 90er-Jahre-Trance beschallen. Links erkennt man jetzt einen See, ich biege direkt ab, steige über Gleise und gehe ans Ufer. Der See – künstlich angelegt, aber sehr groß – ist vor mindestens zwanzig Jahren umgekippt. Schwäne ziehen gemächlich über das Wasser, zwei, drei Ruderboote pendeln zwischen den verlassenen Inseln. Ich setze mich ans Ufer und betrachte die Menschen. Es sind nicht die Hipster und Touristen wie im Parque Chapultepec, sondern die Kinder aus der Gegend, der ältere Mann, der Gymnastik-Übungen am Seeufer macht, das frischverliebte Pärchen, das unter einer Palme seine Ruhe findet.

Dass der Bosque de Aragón schlecht in Stand gehalten ist, macht zugleich seinen Charme aus: Irgendwie ist hier alles noch wie früher und als Besucher fühlt man sich mindestens ein Jahrzehnt zurück versetzt. Gerade dadurch, dass der Park das Feeling eines in die Jahre gekommenen DDR-Erholungsbades hat, schalte ich bald in einen Modus, der mich meine Sorgen vergessen lässt.

Dann reißt mich das Tuten einer Lokomotive aus den Gedanken. Einer Dampflok nachempfunden, fährt sie eine Hand voll Besucher um den See. Ich gehe zurück, wieder die Straße entlang, die für Fußgänger eigentlich viel zu breit ist, an einer Frau vorbei, die Raspados verkauft, frisch vom Block geraspeltes Eis mit Sirup, zwei Radfahrer kommen mir entgegen, dann biege ich wieder vom Weg ab und stehe im Wald. Ein richtiger Fichtenwald, nicht dicht, sehr hell, ausgedehnte Lichtungen, weit und breit kein Mensch. Ich setze mich auf einen Baumstumpf und kann kaum glauben, so einen Ort mitten in Mexico City gefunden zu haben. Auch wenn manchmal das Röhren eines Motors heranweht, überwiegen die Stimmen der Vögel und Eichhörnchen.

Zurück auf der Straße, etwas weiter den See entlang, beginnen die Klettergerüste. Klapprige Tretbuggies stehen in der Sonne, zwei Ponys im Baumschatten, daneben eine Geisterbahn namens „Thriller!“… Hier häufen sich auch die Stände mit Popcorn und Eis, Kinder rasen die Riesenrutsche hinunter, klettern auf Bäume,es kommt fast so etwas wie Bewegung in den Nachmittag. Aber nur ein paar Meter weiter wird es wieder still, die brüchigen Gehwege vom Gras überwachsen, die Schaukeln an vielen Stellen abgehangen, zwei Leute schlafen unter einer Palme – der Park ist einfach zu groß und schluckt jedes Geräusch, und so hört man letztlich nur von den unzähligen Klettergerüsten die Farbe abblättern, und das Gras wachsen und bleibt in einer wohligen Retro-Zeitblase hängen.

Ich bin die Runde fast gegangen, noch immer auf dieser absurd breiten Straße, die – so leer und so viel größer als nötig – ein bisschen an einen dieser Fahrradtrainingsplätze erinnert, oder an ein verlassenes Armeegelände. Vor Allem aber hat mich der Park in seiner Rostigkeit, seinem Gilb und seinen verblichenen Farben für zwei schöne Stunden aus Mexico City heraus gehoben, in eine fast schon verkiffte Kindheitserinnerung, ein bisschen wie in einem Film mit Heinz Erhard, nur eben in den  Tropen.

Party Apostol No. 2

4 Aug

Später Abend in Jiutepec. Das Fest des Jahres nähert sich seinem Höhepunkt, das Franziskanerkloster in der tiefsten Provinz  widmet seinem Namensgeber Santiago Apostol – Jakobus dem Älteren – ein großes Feuerwerk. Das „Castillo“ ist aufgebaut, eine fünfzehn Meter hohes Holzgerüst mit Feuerwerk. Schon zwei Blocks vorher haben die Busse Probleme mit dem Durchkommen. Der Garten vor der Kirche ist voller Menschen, noch immer strömen die Gläubigen durch die großen Holztore. Dann geht das Feuerwerk los, Funken sprühen aus sich-drehenden Rädern, dann verglüht das Licht, ein paar Sekunden Pause, und ein Stockwerk höher lodern die Flammen aufs Neue in den Himmel.
Noch immer gibt die Banda Gruppe Vollgas,  dann knallt wieder etwas, jetzt schauen  alle nur noch nach oben. Als das letzte Stockwerk abgebrannt ist strömen die Menschen zu den Holzgerüsten, Feuerwerke explodieren, Glocken läuten. Es ist das Event des Jahres, das ganze verfickte Dorf hat sich hier eingefunden, jeder trifft jeden, und alle schauen da in dieser schwülen Nacht hoch in den Himmel, über die Sierra Madre, den Widerschein des Feuerwerks im Gesicht. Die Farben blitzen zwischen den Palmen und eine lange Nacht beginnt, weil heute Jakobus` Namenstag ist. Sauber fette Party noch im Anhang, und wir waren dann wieder alle besoffen.

Die Fiesta des Señor Santiago Apóstol in Jiutepec

26 Jul

Eine wilde Schiesserei, Explosionen blitzen silbern am Mittagshimmel, eine halbe Sekunde bevor man sie hört. Menschen strömen aus der Kirche, Rancheros in Sombrero, Leinenhose und Cowboystiefeln, alte Frauen auf Krücken, die Jungs in Jeans und T-Shirt, Mädchen in Shorts oder kurzem Rock. Zwei Nonnen stehen am Wegesrand und verkaufen Marmorkuchen.
Auf dem Platz vor der Kirche wüten halbnackte Indianer auf ihren Trommeln, die Felle beben, richtig behaarte Tierfelle sind das, alle drehen sich im Kreis, ein Mann bläst auf einer Muschel, der Häuptling rennt wie von der Tarantel gestochen um ihn herum, all das am Fuß des Castillos, dem 15 Meter hohen Holzgerüst, das heute abend brennen soll. Sie tragen farbenprächtige Westen, Kränze aus Fasanenfedern, an den Fußgelenken rascheln Muschelbänder. Männer und Frauen, Kinder und Alte, unter den immer schnelleren Rhythmen der Trommeln tanzen sie sich in der Hitze der Mittagssonne in Trance.
In ihrer Mitte stehen drei Frauen. Sie halten Wimpel hoch, auf einem die Jungfrau von Guadalupe, auf dem nächsten eine indianische Gottheit und auf dem dritten ein Konterfei des Señor Santiago Apóstol.

Santiago Apóstol, oder Jakobus der Ältere, war einer der zwölf Apostel Jesu. Herodes machte in zum ersten christliche Martyr, sein Leichnam soll mit einem Schiff ohne Besatzung auf´s offene Meer hinausgeschickt worden sein. Es kam der Legende nach an der Küste von Gallizien an, von wo aus die Spanier den Körper ins Landesinnere schafften. Über seinem Grabmal errichtete man eine Kapelle, um die herum dann der berühmte Pilgerort Santiago de Compostella entstand.
In Mexiko ist Santiago Apóstol auch als Matamoros bekannt. Man kann das wohl guten Gewissens als „Negerkiller“ übersetzen. Die spanischen Eroberer wählten ihn zu ihrem Schutzheiligen, der ihnen im Kampf gegen die dunkelhäutigen Indios beistehen sollte. Heute betrachtet man den Heiligen als einen Kämpfer gegen Satan und seine Dämonen.

Zwei Indianerinnen in weißen Kleidern knien auf dem Boden, um eine Schale mit Weihrauch zu entzünden. Die Musik wird leiser. Nun dringt die andere Band durch, denn hier im Garten vor der Kirche gibt es noch einen anderen Floor – nur ein paar Schritte weiter schmettert eine Blaskapelle knalligen Banda-Sound in die Menge, alle in Uniform, ein Dutzend blaugekleideter Herren mit schwarzen Cowboyhüten, ein Tuba blitzt in der Sonne, die Bassdrum rumort, und der Sänger feuert das Publikum an. Es sind moderne Schlager aus dem mexikanischen Radio.
Die Indianer bilden währenddessen einen Kreis, gehen drei Schritte, drehen sich um, dann bewegt sich ihr Kreis in die andere Richtung.

Noch immer drängen Menschen aus der Kirche. Drinnen eine lange Schlange von der letzten Bank bis zum Altar. Gelangweilte Jugend, stoische Männer und hutzlige Frauen schieben sich Zentimeter um Zentimeter vorwärts. Von der Decke hängen lange Stofflaken in Ocker und Karminrot. Neben dem Altar steht eine Pferdeskulptur, darauf der Apostel Jakobus, das Kreuz in der einen, das Schwert in der anderen Hand. Die Gläubigen berühren einer nach dem anderen die Hufen, reiben Zettel mit Wünschen an der Brust des Pferdes, bekreuzigen sich. Die Jüngeren nehmen von Nahem noch ein Handyfoto. Dann gehen sie zurück, vorbei an dutzenden Blumengestecken, einem bunten Meer, das von der Bühne quillt.

Die dunkelhäutigen Menschen von Jiutepec, der Matamoros, die Nonnen, es ist schon etwas verwirrend. Wenn sich die Trommeln der Indianer mit der Popmusik der Banda-Gruppe vermengen und in den alten Gemäuern der franziskanischen Kirche wiederhallen, wenn sich die Fäden der Geschichte zu verheddern drohen und dann doch den kräftigen Strang einer ausgelassenen mexikanischen Fiesta spinnen, dann versteht man ein bisschen mehr, was dieses bunte Volk zusammen hält.